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Titel
LSD auf dem Land. Produktion und kollektive Wirkung psychotroper Stoffe


Autor(en)
Bächi, Beat
Erschienen
Konstanz 2020: Konstanz University Press – KUP
Anzahl Seiten
346 S.
von
Peter-Paul Bänziger, Departement Geschichte, Universität Basel

Nach wie vor wird Drogengeschichte meist als Konsumgeschichte geschrieben. Darstellungen zur Schweiz kulminieren oftmals in den «offenen Drogenszenen» der späten 1980er und frühen 1990er Jahre. Sie beschreiben das Elend der Konsumierenden und die Lösung der Problematik durch die sogenannte Vier-Säulen-Politik. Vor diesem Hintergrund nimmt Beat Bächi gleich zwei bedeutsame Verschiebungen vor: Erstens analysiert er die Geschichte von Rauschmitteln – im Zentrum stehen LSD und Psilocybin – von der Produktionsseite her. Und zweitens stellt er die von der bisherigen Historiografie kaum beachtete Mitte des 20. Jahrhunderts ins Zentrum. Entstanden ist eine äusserst lesenswerte Studie, die weit über das Themenfeld im engeren Sinne hinausweist.

Ausgehend vom Begriff der «logistischen Gemeinschaft» folgt Bächi der auf zahlreichen Zufällen beruhenden und vielfach verschränkten Geschichte unterschiedlicher Materialien. Dieser Ansatz erweist sich als sehr produktiv. Neben Pflanzen, Pilzen, Äckern, Mist, chemischen Stoffen, Forschungs- und Transportinfrastrukturen, Maschinen und anderen technischen Geräten geraten unter anderem Bauernfamilien, psychiatrische Anstalten, Chemiker, Armeen und Geheimdienste, Touristinnen und andere Drogenkonsumenten in den Blick, aber auch «Missionarinnen, Geschäftsleute, curanderas, Anthropologinnen, lokale Führer und Naturalisten, Linguisten, Lehrerinnen, überregionale und lokale Politiker» (S. 147). Trotz umfangreicher Bemühungen um eine Stabilisierung der Substanzen in den Labors von Sandoz entstand «kein einheitliches, wissenschaftliches Wissen über LSD oder magic mushrooms, sondern zahlreiche Verwendungsorte, -Weisen und -Kontexte, Erfahrungs- und Erwartungshorizonte und differierende Wirkungen»
(S. 312 f.), wie Bächi anschaulich zu zeigen vermag.

Im Zentrum des ersten Teils steht der Anbau des Rohstoffs, des Getreidepilzes Mutterkorn, den Bächi als wichtigen Motor der Industrialisierung der schweizerischen Landwirtschaft beschreibt. Die eigens dafür entwickelte Roggensorte war nicht nur auf Kunstdünger und Pflanzenschutzmittel angewiesen, sondern auch einer der ersten landwirtschaftlichen Organismen, an dem ein Saatgutunternehmen exklusive Eigentumsrechte durchzusetzen versuchte. Das Produkt LSD war zwar kein kommerzieller Erfolg, doch steht es für den allgemeinen Aufschwung von Psychopharmaka in der Nachkriegszeit. Nach ersten Anwendungen in der Psychiatrie «verhalfen die Neuroleptika, die Tranquilizer und LSD» in den 1960er Jahren «dem neuen Modell der kleinen Dosis – der Ära der Tablette – zum Durchbruch.» (S. 242).

Eindrückliche Parallelen zur Transformation der Landwirtschaft in der Schweiz weist die Geschichte von industrieller Bioprospektion, lokalen Medikalkulturen und staatlicher Modernisierungspolitik im ländlichen Mexiko auf, der Bächi im zweiten Teil nachgeht. Unter anderem führten ein riesiges Staudammprojekt im Bundesstaat Oaxaca und die dazu notwendigen Umsiedlungen dazu, dass mexikanische Anthropologinnen den Alltag in der Sierra Mazateca zu studieren begannen und die Infrastruktur ausgebaut wurde. Darauf und auf ausgezeichnete Beziehungen zum Banco Nacional de México konnten sich eine Ärztin und ein Banker aus New York stützen, die in ihrer Freizeit indigene Pilzzeremonien erforschten. Anstatt diese in erster Linie als Teil der lokalen Medikalkultur zu verstehen, suchten sie vor allem nach religiösen Inhalten. Eine mehr als Artistin denn als Heilerin geltende Frau lieferte ihnen schliesslich, was sie suchten: ein Rauschritual mit «Sex-Appeal» und «musikalischer Performance» (S. 313). Die Wissensgeschichte von Rauschmitteln, das zeigt Bächi auch an zahlreichen weiteren Stellen, ist immer auch Geschlechtergeschichte.

Diese Transformation machte den angeblichen Pilzkult erst attraktiv für Beatniks und die Gegenkultur. Die zuvor nicht käuflichen Pilze wurden zu steigenden Preisen auf örtlichen Märkten angeboten. Zugleich führte die Entdeckung dieses «exotischen» Verwandten zu einem gesteigerten Interesse am LSD. Die Synthese von Psilocybin hingegen wurde von Sandoz als «‹Entzauberung› der alten Aztekendroge durch die moderne Wissenschaft» verkauft (S. 229). Wiederum ging aus einem Naturstoff ein rechtlich geschütztes pharmazeutisches Produkt hervor, dem aber ebenfalls kein kommerzieller Erfolg beschieden war. In Oaxaca aber wurden die Pillen positiv aufgenommen, unter anderem weil sie Behandlungen ausserhalb der Pilzsaison erlaubten. Nicht das erste Mal erwies sich die lokale Medikalkultur als äusserst wandelbar.

Im dritten Teil fragt Bächi zunächst nach der Rolle von LSD und Psilocybin im Kalten Krieg. Internationale Geheimdienste interessierten sich für Methoden der Bewusstseinskontrolle, während die schweizerische Armee einen «humanen» Krieg (S. 257) ohne Tote zu führen hoffte. Doch auch als Kampfstoff hatten die Substanzen keinen Erfolg. Schon bald wurden die Rufe nach einem Verbot lauter, wobei Bächi auf einen bisher unbeachteten Kontext verweist: Der Skandal um Contergan, mit dem LSD oftmals gleichgesetzt wurde, führte zu verschärften Zulassungskriterien für Arzneimittel. So wurde bei klinischen Tests das Doppelblindverfahren vorgeschrieben, eine statistisch ausgerichtete Methodologie, in die psychotrope Stoffe wie LSD und Psilocybin «kaum eingepasst werden» konnten (S. 290).

Wenn Bächi nun vor diesem Hintergrund den Schluss nahelegt, dass «die Hippies und die gegenkulturellen Konsumentinnen und Konsumenten» beim Verbot «bestenfalls eine Statistenrolle» gespielt hätten (S. 286), entsteht ein allzu einseitiges Bild. Es zeigt sich, dass auch der ausschliessliche Blick auf die Produktionsseite, hier besonders auf Forschung und Entwicklung, seine blinden Flecke erzeugt. Die Ausgangsfrage des Buchs, wie die Stoffe den Weg in die Gegenkultur fanden, wird nicht zuletzt deshalb nur teilweise beantwortet, weil die Sphäre der Distribution weitgehend unbeachtet bleibt und damit die Wege, über die die steigende Nachfrage befriedigt wurde. Als blinder Fleck erweist sich die Gegenkultur aber auch dann, wenn Bächi vor allem ihre Verwandtschaft «mit dem Kapitalismus und dem Neoliberalismus» hervorhebt (S. 322). Mit der Engführung auf diesen Fluchtpunk verlässt er seinen in vielerlei Hinsicht produktiven Ansatz, die Komplexität und Offenheit historischer Situationen ins Zentrum zu stellen.

Zitierweise:
Bänziger, Peter-Paul: Rezension zu: Bächi, Beat: LSD auf dem Land. Produktion und kollektive Wirkung psychotroper Stoffe, Konstanz 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (2), 2022, S. 327-328. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00108>.